Die Arbeit von Vincent Scheers ruft uns zu etwas auf. Ich war lange der Meinung, es gehe dabei darum, sich an den Tod zu erinnern, um eine Art zeitgenössisches Memento mori. So hat Scheers für seine aktuelle Serie der Incubators, die bei beacon in der Gruppenausstellung Fragrant Tissues zu sehen war, das Gemälde eines Löwenzahns mit einer Schicht Agar-Agar überzogen und dieses Bild – unter Idealbedingungen – der Fäulnis, dem Verfall und dem Tod überlassen. Und doch, sollte es sich bei diesem Aufruf in Scheers’ Arbeit tatsächlich um eine Erinnerung an den Tod handeln, dann geht es vielleicht doch eher um den freudschen Todestrieb, der sich hier meldet, jenen Trieb, der lebendige organische Materie in Richtung eines früheren Zustands der Trägheit treibt, eine Rückkehr zum Unbelebten. Und so hallt in diesem Aufruf eine Forderung Nietzsches wider – und zwar die Forderung, sich in Stein zu verwandeln.
Was Scheers’ Alchemie dabei so eigenartig wirken lässt: Der Stein ist hier flüssig. Es wäre vielleicht also besser, hier von einer Beschwörung des Chemischen zu sprechen, wie es sich etwa in denjenigen Arbeiten findet, für die Scheers Bleichmittel zur Zerstörung wie auch zur Transformation und Konservierung einsetzt: Er legt Lilien in eine Bleichelösung und wartet, bis die Farbe verblasst; er malt Pflanzenbilder mit Bleiche gegen das Licht des Gewächshausdachs des Botanischen Gartens in München; oder er taucht, in einer anderen Arbeit, das Gesicht der mythologischen Figur des Silenus, Dionysos’ Begleiter, in Essig, bis sich auch dieses Objekt – übrigens ein historisches kulturelles Artefakt – auflöst. Auch Silenus hatte den Tod beschworen und behauptet, dass es für die Menschen doch das beste sei, würden sie überhaupt nicht geboren werden; oder dass sie, hätten sie die Wahl, gleich nach der Geburt sterben.
Flüssiger Stein, geschmolzener Fels, das Chemische – Scheers macht sich in seiner Arbeit mit Landschaften, Pflanzen und Tieren daran, die Rolle der Natur neu zu justieren. Für gewöhnlich betrachten wir die Natur durch die Augen eine:r Botaniker:in – als etwas, das lebt, das wächst und sich in Bahnen fortpflanzt, die durch die Gesetze der Evolution vorgegeben sind. Doch die Natur ist über weite Strecken unnatürlich, die Verbindungen und Bündnisse zwischen den verschiedenen Lebewesen haben nichts mit einfacher Fortpflanzung zu tun: Momente der Mutation, Symbiose und Mimikry, die Wespe und die Orchidee, Ahab und sein Wal, Wolfsmenschen und Vampire. Nicht wenige Schmetterlingsarten haben sich parallel zu bestimmten Pflanzen entwickelt. Ihre Rüssel sind entsprechend perfekt angepasst, was es ihnen ermöglicht, den Nektar je anderer Blumen zu sammeln. Bei Scheers jedoch begegnet man Schmetterlingen, die sich auf dem Hintern eines Warzenschweins tummeln und in dessen Kot und Schweiß nach überlebenswichtigen Nährstoffen suchen, die sie anderswo nicht bekommen. Um zu überleben, müssen sie ihr Verhalten ändern. Und buchstäblich jemandem den Hintern küssen.
Scheers weiß, dass die Herstellung derart unnatürlich wirkender Verbindungen nicht ohne den Prozess des Aufbrechens und der Auflösung vonstatten gehen kann. In seinem Werk überschneiden sich zwei große Ebenen der Natur. Bei der ersten handelt es sich um die altbekannte Ebene der unterschiedlichen Arten, klar abgegrenzt und in individuellen Einzelleben organisiert. Das ist die Landschaft des Modellbauers mit grünem Gras und gestochen scharf gezogenen Wegen. Die zweite Ebene ist die des chemischen, flüssigen Steins. Auch hier gibt es eine gewisse Konsistenz, allerdings eine paradoxe der permanenten Veränderung. Die erste Ebene der Organisation gründet auf der Variation der zweiten; und die zweite bringt das Neue und Andere nur hervor, wenn sie die Organisation der ersten immer wieder aufhebt. Und das ist er, dieser Ruf des Chemischen in Scheers’ Werk: die strukturellen Bindungen des Organisierten auflösen – und dem Neuen die Tür öffnen.
Magdalena Wisniowska
Deutsche Übersetzung
Domenikus Müller